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Der unzulängliche Sommer schloß seine Pforten wie ein Flop am Broadway. Die Temperatur fiel wie eine Guillotine; der Dollar dagegen begann seinen Höhenflug. Überall, wo man hinsah, in den Fitneßstudios, den Clubs, Galerien, Büros, auf den Straßen, auf dem Parkett der New Yorker Börse, in den großen Sportstadien und Unterhaltungszentren bereiteten sich die Menschen auf die neue Saison vor, wärmten die Muskeln für den Einsatz, frischten Körper, Geist und Garderobe auf und begaben sich in die Startlöcher. Showtime auf dem Olymp! Die City war die Rennstrecke. Graue Mäuse brauchten sich zu diesem äußerst anspruchsvollen Wettkampf gar nicht erst zu melden. Dies war ein immens wichtiges Ereignis, der Kampf um Höchstleistungen, die Weltliga. Dies war ein Profirennen, dessen Sieger wahre Götter waren. Der zweite Platz zählte nicht: Verliererstraße. Silber- und Bronzemedaillen wurden nicht verliehen, und die einzige Regel hieß Sieg oder K.O.
In diesem olympischen Herbst waren die Sportler auf allen Kanälen: in Ungnade gefallene chinesische Schildkrötenbluttrinker, Marion Jones’ Mund, der in ein Mikrophon flüsterte, Marion Jones’ Ehemann, dessen Dopingtest positiv gewesen war, Michael Johnson, der mit einem Telefon lief und alle Rekorde brach. Auch das, was Jack Rhinehart die Scheidungs-Olympiade genannt hatte, lief auf Hochtouren. Lester, der greise zweite Ehemann von Solankas Ex-Frau Sara Lear Schofield, verstarb vor dem letzten Verhandlungstag im Schlaf, hatte sie aber vorher noch enterbt. Der erbitterte Krieg der Worte zwischen Sara, dem brasilianischen Supermodel Ondine Marx und Schofields erwachsenen Kindern aus früheren Ehen verdrängte die Betonkillermorde endlich aus den Schlagzeilen. Sara ging aus diesen einleitenden Wortgeplänkeln eindeutig als Siegerin hervor. Um zu beweisen, daß der Verstorbene all seine Kinder von Herzen verabscheut und geschworen hatte, daß er keinem von ihnen auch nur so viel wie den Brückenzoll für die Triborough Bridge hinterlassen werde, veröffentlichte sie fotokopierte Auszüge aus Schofields privaten Tagebüchern. Außerdem engagierte sie Privatdetektive, um alles über Ondine, die einzig Erbberechtigte nach Schofiels letztem, heiß umstrittenen Testament, in Erfahrung zu bringen. Die Presse wurde überschwemmt mit Einzelheiten über die bisexuelle Promiskuität des Models und ihre Vorliebe für chirurgische Verschönerungen. »Sie ist nicht mein Geschmack, aber es heißt, sie ist ein Leckerbissen«, bemerkte Sara mit beißendem Spott. Ondines früherer Drogenmißbrauch und ihre anstößigen Pornofilme wurden ebenfalls dankbar aufgenommen; und als Krönung des Ganzen förderten die Privatdetektive auch noch eine geheime Liaison mit dem attraktiven Paraguayo-Nachkommen eines Nazi-Kriegsverbrechers zutage. Diese Enhüllungen führten dazu, daß das Model das Interesse der Einwanderungsbehörde erregte und Gerüchte von der bevorstehenden Annullierung ihrer Green Card kursierten. Ich bin noch immer ein einfacher Landser hier, Britpack Sara aber befehligt Bataillone, dachte Malik Solanka mit einer gewissen Bewunderung. Ich bin nur ein Gesicht in der Menge, sie aber gehört zu den Killerqueens.
Planetgalileo.com, das Projekt der Marionettenkönige, sein letzter Versuch zum großen Coup, hatte mächtige Verbündete gefunden. Die Webspyders hatten ihre Netze geschickt gespannt. Förderer und Sponsoren standen Schlange, um sich an diesem wichtigen neuen Unternehmen des Schöpfers des legendären Braingirls beteiligen zu dürfen. Über Produktion, Distribution und Marketing bestanden bereits Absprachen mit den wichtigsten Geschäftspartnern: Mattel, Amazon, Sony, Columbia, Banana Republic. Ein ganzes Arsenal von Spielsachen war in der Planung, alles, von weichen Schmusepuppen bis zu lebensgroßen Robotern mit Stimmen und blinkenden Lichtern, ganz zu schweigen von den Spezialkostümen für Halloween. Es gab Gesellschaftsspiele, Puzzlespiele und neun verschiedene Raumschiffe und Cyborg-Neutralisatoren sowie maßstabgerechte Modelle des ganzen Planeten Galileo-I und, für die echten Fans, des ganzen Sonnensystems. Die Amazon-Vorbestellungen für das Buch zur Geschichte Die Revolte der Lebenden Puppen reichten fast an das rekordbrechende Niveau der Braingirl-Bände heran. Ein Playstation-Spiel stand kurz vor dem Versand und wurde bereits kräftig vermarktet; eine neue Modelinie unter dem Galileo-Label sollte während der 7th on Sixth-Modewoche vorgeführt werden; und, beschleunigt von der Angst vor einem großen Streik der Schauspieler und Autoren im kommenden Frühjahr, sollte in nächster Zeit ein Big-Budget-Film grünes Licht bekommen. Banken wetteiferten miteinander darum, Kredite geben zu dürfen, und senkten die Zinssätze der notwendigen, immensen Darlehen immer weiter. Das größte Internet-Provider-System Chinas hatte um Gespräche gebeten. Mila, die Frontfrau der Webspyders, arbeitete rund um die Uhr - mit außerordentlichen Resultaten. Solankas Verhältnis zu ihr war jedoch weiterhin äußerst distanziert. Ihr Zorn über seine Abfuhr war eindeutig weit größer, als sie sich anfangs hatte anmerken lassen. Solanka wurde von ihr über sämtliche Entwicklungen auf dem laufenden gehalten und aufgefordert, sich auf eine Medien-Offensive gefaßt zu machen, doch was den menschlichen Kontakt betraf, so hätten die Manhattan und die Brooklyn Bridge ebensogut mit Stacheldraht abgesperrt sein können, mit geklonten, dreiköpfigen Versionen von Eddie Ford als Wächter auf beiden Seiten. In der elektronischen Welt arbeiteten Solanka und die Webspyders jeden Tag stundenlang eng zusammen. Draußen aber waren sie Fremde. Das war offenbar unvermeidlich.
Zum Glück war Neela noch in New York, obwohl der Grund für den Aufschub ihrer Reise beunruhigend war und ihr große Sorgen machte. In Lilliput-Blefuscu hatte es einen Coup gegeben, angeführt von einem gewissen Skyresh Bolgolam, einem Elbee-Kaufherrn, dessen Handelsunternehmen alle fehlgeschlagen waren und der daher die wohlhabenden Indo-Lilly-Händler mit einer Leidenschaft haßte, die man rassistisch hätte nennen können, wäre sie nicht so eindeutig aus Berufsneid und persönlichem Groll entstanden. Der Coup schien spektakulär überflüssig zu sein; unter dem Druck der Bolgolamiten hatte Golbasto Gue, der liberale Präsident des Landes, der ein Reformprogramm durchgeboxt hatte, das den Indio-Lilliputanern gleiches Wahl- und Besitzrecht zusicherte, inzwischen schon den Kurs ändern und die neue Verfassung nur Wochen nachdem sie eingeführt worden war, rückgängig machen müssen. Bolgolam vermutete jedoch eine List; er stürmte, begleitet von zweihundert bewaffneten Rowdies, das Lilliputanische Parlament im Stadtzentrum von Mildendo und nahm ungefähr fünfzig Indo-Lilly-Parlamentarier und Angehörige des politischen Stabes sowie Präsident Gue selbst als Geiseln. Zur selben Zeit überfielen Bolgolams Totschlagkommandos führende Mitglieder der politischen Indo-Lilly-Führung und steckten sie ins Gefängnis. Die Rundfunk- und Fernsehsender des Landes ebenso wie die Telefonzentrale wurden besetzt. Am Blefuscu International Aerodrome wurden die Runways blockiert. Lillicon, der Haupt-Internetserver der Inseln, wurde von der Bolgolam-Bande geschlossen. Dennoch blieb ein begrenzter Datentransfer bestehen.
Wo sich Neelas Freund von der New Yorker Demonstration aufhielt, war nicht bekannt; doch als trotz Bolgolams Verbot allmählich Nachrichten aus Lilliput ins Ausland sickerten, stellte sich heraus, daß Babur nicht zu denen gehörte, die im Parlament oder im Gefängnis als Geiseln festgehalten wurden. Wenn er nicht getötet worden war, mußte er untergetaucht sein. Neela entschied, daß dies die wahrscheinlichere Alternative sei. »Wenn er tot ist, hätte Bolgolam, dieser Schurke, die Nachricht bestimmt herausgegeben. Nur um die Opposition noch mehr zu demoralisieren.« Solanka sah sie in den Tagen nach dem Staatsstreich nur sehr selten, weil sie wegen der Zeitdifferenz von dreizehn Stunden häufig noch mitten in der Nacht versuchte, über das World Wide Web und Satphone-Links Kontakt mit dem aufzunehmen, was jetzt die Filbistani Resistance Movement (das FRM oder Fremen) war. Außerdem suchte sie, begleitet von einer Restmannschaft von Kameraleuten, eifrig nach Mitteln und Wegen, um über Australien oder Borneo illegal nach Lilliput-Blefuscu einzureisen. Solanka begann sich größte Sorgen um ihre Sicherheit und trotz der größeren historischen Bedeutung der Dinge, die gegenwärtig seine Aufmerksamkeit erforderten, um sein eigenes, neu gefundenes Glück zu machen. Unvermittelt eifersüchtig auf ihre Arbeit, pflegte er seinen imaginären Groll und redete sich ein, er werde geringgeschätzt und ignoriert. Schließlich betrat seine fiktive Zameen heimlich baburischen Boden, weil sie nach ihrem Schützling suchte (obwohl ihm, wie er sich eingestand, unklar war, zu welchem Zweck). Eine weitere furchtbare Möglichkeit drängte sich auf. Vielleicht suchte Neela in Lilliput nicht nur eine Story, sondern auch einen Mann. Nun, da der Mantel der Geschichte auf die völlig unpassenden Schultern des glatzköpfigen, barbrüstigen Flaggenschwingers gefallen war, den sie so sehr bewunderte, war es da nicht möglich, daß Neela in diesem muskelbepackten Babur einen weit attraktiveren Liebhaber sah als in dem eher gesetzten, reiferen Mann, der mit Märchen und Spielzeug handelte? Aus welchem Grund sollte sie sonst ihr Leben aufs Spiel setzen, indem sie sich nach Lilliput-Blefuscu hineinschlich, um ihn zu suchen? Nur wegen eines Dokumentarfilms? Ha! Das leuchtete nicht ein. Das war ein Vorwand, wenn man so wollte. Und Babur, ihr wachsendes Verlangen nach Babur, war der wirkliche Grund.
Eines späten Abends, und auch nur, nachdem er ein großes Theater darum gemacht hatte, kam sie ihn in der West Seventieth Street besuchen. »Ich dachte, du würdest mich nie darum bitten«, sagte sie lachend, als sie eintraf, und versuchte, indem sie möglichst heiter klang, die dicken Wolken aus der gespannten Atmosphäre zu vertreiben. Er konnte ihr nicht die Wahrheit sagen: daß er wegen Milas Gegenwart gleich nebenan bis jetzt noch Hemmungen gehabt hatte. Sie waren beide zu nervös und erschöpft, um sich zu lieben. Sie war ihren Hinweisen nachgegangen, und er hatte den Tag damit verbracht, mit Journalisten über das Leben auf Galileo-I zu sprechen, eine entnervende, auslaugende Arbeit, bei der er selbst merkte, wie wenig überzeugend er klang, und von der er wußte, daß die Journalisten seine Worte verfälscht wiedergeben würden. Solanka und Neela sahen sich Letterman an, ohne ein Wort zu wechseln. Da sie an Schwierigkeiten in ihrer Beziehung nicht gewöhnt waren, hatten sie noch keine Sprache für den Umgang mit Problemen erfunden. Je länger das Schweigen zwischen ihnen dauerte, desto häßlicher wurde es. Und dann, als wären die bösen Gefühle aus ihren Köpfen hervorgebrochen und hätten Gestalt angenommen, hörten sie einen durchdringenden Schrei. Dann ein Geräusch, als gehe etwas in Scherben. Dann einen zweiten, lauteren Schrei. Und dann eine sehr lange Zeit gar nichts.
Sie gingen auf die Straße hinaus, um nachzusehen. Das Vestibül von Solankas Haus hatte eine Innentür, die man nur mit einem Schlüssel öffnen konnte, doch da im Moment der Metallrahmen verzogen war, fiel sie nicht mehr richtig ins Schloß. Die äußere Tür, die Tür zur Straße, wurde niemals abgeschlossen. Das war sogar im neuen, sichereren New York besorgniserregend. Denn wenn draußen eine Gefahr drohte, konnte sie theoretisch auch ins Haus gelangen. Doch auf der Straße war alles still und leer, als hätte niemand anders etwas gehört. Auf jeden Fall war niemand herausgekommen, um nachzusehen, was los war. Und trotz des lauten Krachens lag nichts auf dem Bürgersteig, weder ein zerbrochener Blumentopf noch eine Vase. Verwundert blickten sich Neela und Solanka um. Das Leben anderer Menschen hatte das ihre berührt und war wieder verschwunden. Es war, als hätten sie einen Streit zwischen Geistern belauscht. Das Fenster, das zu Milas Wohnung gehört hatte, war jedoch weit hochgeschoben, und als sie hinaufschauten, erschien die Silhouette eines Mannes und zog es energisch zu. Dann gingen die Lichter aus. »Das muß er sein«, sagte Neela. »Es hörte sich an, als hätte er sie beim erstenmal verfehlt, sie aber beim zweitenmal erwischt.« Und das Geräusch von etwas, das zerbricht? fragte Solanka. Sie aber schüttelte nur den Kopf, ging ins Haus und wollte unbedingt die Polizei anrufen. »Wenn ich ermordet würde, und meine Nachbarn unternähmen nichts, würde ich tief enttäuscht von ihnen sein, du nicht auch?«
Innerhalb einer Stunde erschienen zwei Polizisten, nahmen ihre Aussage auf, gingen davon, um nachzusehen, und kamen nicht wieder. »Man sollte meinen, sie würden wiederkommen und berichten, was da passiert ist«, rief Neela verärgert. »Sie müssen doch wissen, daß wir hier mitten in der Nacht noch auf sind und uns schreckliche Sorgen machen.« Solanka fuhr auf und ließ seinem Groll freien Lauf. »Vermutlich hatten sie keine Ahnung, daß sie dir Bericht erstatten müssen«, sagte er ohne den geringsten Versuch, seinen Worten die Schärfe zu nehmen. Augenblicklich ging sie auf ihn los, stand ihm in Aggressionslust um keinen Deut nach. »Was willst du eigentlich?« fragte sie. »Ich hab’s satt, so zu tun, als hätte ich nicht einen alten Griesgram vor mir.« Und so ging es los, mit der traurigen Spirale von Vorwurf und Gegenvorwurf, diesem uralten, täglichen Beschuldigungsspiel: du hast gesagt nein du hast gesagt, du hast getan nein das warst du, ich sage dir ich hab’s nicht nur satt nein ich hab’s wirklich satt weil du so viel verlangst und so wenig gibst, ach ja nun dann werde ich dir sagen ich könnte dir den ganzen Bestand von Fort Knox und Bergdorf Goodman geben und es würde dir immer noch nicht genügen, und was soll das nun wieder heißen, wenn ich fragen darf, du weißt verdammt genau was das heißen soll. Ach so. Nun gut. Also ich nehme an, das wär’s dann ja wohl. Na klar, wenn du das so willst. Was ich will? Du zwingst mich ja dazu, so was zu sagen. Nein, du konntest es ja gar nicht erwarten, das endlich auszusprechen. Verdammt noch mal, hör auf, mir Worte in den Mund zu legen. Ich hätt’s wissen müssen. Nein, ich hätt’s wissen müssen. Na ja, jetzt wissen wir’s beide. Also okay. Okay.
In diesem Moment, als sie einander wie blutverschmierte Gladiatoren gegenüberstanden und die Wunden austeilten, die ihre Liebe schon bald tot auf dem Boden dieses emotionalen Colosseums zurücklassen würden, hatte Professor Malik Solanka eine Vision, die seine scharfe Zunge zum Stillstand brachte. Ein großer schwarzer Vogel saß auf dem Dach des Hauses, und seine Schwingen warfen einen tiefen Schatten über die Straße. Die Furie ist hier, dachte er. Eine der drei Schwestern ist schließlich gekommen, um mich zu holen. Das waren nicht Angstschreie, die wir gehört haben; das war der Ruf der Furie. Das Geräusch, als zerbreche etwas auf der Straße - ein explosives Geräusch, als werde ein Betonbrocken aus großer Höhe mit unvorstellbarer Wucht heruntergeschleudert kam nicht von irgendeiner verdammten Vase. Es war das Geräusch eines zerbrechenden Lebens.
Und wer weiß, was geschehen wäre oder wozu er im Griff der wiedergekehrten Furie noch fähig gewesen wäre, wäre Neela nicht gewesen, hätte sie nicht, in ihren hochhackigen Schuhen um einen ganzen Kopf größer als er, wie eine Königin, wie eine Göttin auf seinen dichten Schopf langer, silberner Haare hinabgeschaut; oder wäre sie nicht so klug gewesen, das Entsetzen zu erkennen, das über sein weiches, rundes, jungenhaftes Gesicht huschte, die Angst, die in den Winkeln seines Amorbogenmundes zitterte; oder hätte sie nicht in diesem letzten aller möglichen Momente den befeuernden Mut, die pure emotionale Stärke gehabt, das letzte Tabu zu brechen, das noch immer zwischen ihnen stand, sich mit der ganzen Courage ihrer Liebe auf unerforschtes Gebiet zu wagen, zu beweisen, daß ihre Liebe über jeden Zweifel hinaus stärker war als der Furor, indem sie ihren langen, vernarbten Arm ausstreckte, um ihm zum allerersten Mal in ihrem Leben und sehr behutsam die verbotenen Haare zu zerzausen, die langen Silberhaare, die ihm auf dem Kopf wuchsen.
Der Bann war gebrochen. Er lachte laut auf. Eine große schwarze Krähe breitete die Flügel und flog davon, über die Stadt hinweg, um Minuten später neben der Booth-Statue im Gramercy Park tot zu Boden zu fallen. Solanka begriff, daß seine eigene Heilung von dieser seltsamen Krankheit vollendet war. Die Göttinnen des Zorns waren verschwunden; ihre Macht über ihn war endlich gebrochen. Sehr viel Gift war aus seinen Adern geflossen, und sehr vieles, das viel zu lange unterdrückt worden war, wurde endlich freigesetzt. »Ich werde dir eine Geschichte erzählen«, sagte er; und Neela ergriff seine Hand, um ihn sanft zu einem Sofa zu führen. »Erzähl sie mir nur, aber ich glaube, es wird eine Geschichte sein, die ich schon kenne.«
Am Ende des Science-Fiction-Films Solaris, der Geschichte von einem mit Meeren bedeckten Planeten, die ein einziges gigantisches Gehirn bilden, das die Gedanken der Menschen lesen und ihre Träume wahr werden lassen kann, kehrt der Raumfahrerheld endlich nach Hause zurück und sitzt auf seiner längst verlorenen russischen Datscha, während seine Kinder fröhlich um ihn herum spielen und seine schöne, tote Frau wieder lebendig neben ihm sitzt. Als die Kamera zurückfährt, endlos, unvorstellbar weit, erkennen wir, daß die Datscha ein winziges Inselchen im großen Meer von Solaris ist: eine Sinnestäuschung oder vielleicht auch eine tiefere Wahrheit als die Wahrheit. Die Datscha schrumpft zu einem Punkt und verschwindet, und wir bleiben zurück mit der Vorstellung des mächtigen, verführerischen Ozeans der Erinnerung, der Phantasie und der Träume, wo nichts stirbt, wo alles, was du brauchst, immerwährend auf einer Veranda wartet oder mit kindlichem Jubel und glücklich ausgebreiteten Armen über einen grünen Rasen auf dich zugelaufen kommt. Erzähl’s mir. Ich weiß schon alles. Neela, die Herzenskluge, hatte erraten, warum die Vergangenheit für Professor Solanka keine Freude war. Als er Solaris sah, hatte er die letzte Szene erschreckend gefunden. Ich habe so einen Mann gekannt, dachte er, einen Mann, der in der Illusion von Vaterschaft lebte, gefangen in einem grausamen Irrtum über die Natur väterlicher Liebe. Auch so ein Kind habe ich gekannt, dachte er, das auf den Mann zuläuft, der die Rolle des Vaters spielt, aber diese Rolle ist eine Lüge, eine Lüge. Es gab keinen Vater. Es gab kein glückliches Elternhaus. Das Kind war nicht es selbst. Nichts war so, wie es den Anschein hatte.
Jawohl, Bombay kam zurückgeflutet, und Solanka lebte wieder dort, oder wenigstens in dem einzigen Teil der Stadt, der wirklich Macht über ihn besaß, jenes kleine Stück der Vergangenheit, aus dem ganze Infernos heraufbeschworen werden konnten, sein verdammtes Yoknapawtapha, sein verfluchtes Malgudi, das seine Zukunft bestimmt und dessen Erinnerung er über ein halbes Leben lang unterdrückt hatte. Methwold’s Estate: Das war mehr als genug für ihn. Und vor allem eine Wohnung in einem Block namens Noor Ville, in dem er eine sehr lange Zeit wie ein Mädchen aufgezogen worden war.
Anfangs konnte er dieser Geschichte nicht in die Augen sehen, hatte sich ihr nur seitwärts genähert, indem er von den Bougainvilleen sprach, die über die Veranda kletterten und dabei wie ein Arcimboldo-Einbrecher aussahen oder wie sein Stiefvater nächtens an seinem Bett. Oder er hatte die Krähen beschrieben, die krächzend wie böse Omina auf seine Fensterbank kamen, und war zu der Überzeugung gelangt, daß er ihre Warnungen vielleicht sogar verstanden hätte, wenn er nur nicht so dumm gewesen wäre, wenn er sich nur ein bißchen mehr zusammengerissen hätte; dann hätte er von zu Hause fortlaufen können, bevor etwas geschah, so daß es seine eigene Schuld war, seine eigene dumme Schuld, daß er diese ganz einfache Aufgabe nicht bewältigt hatte, nämlich die Sprache der Vögel zu verstehen. Oder er sprach von seinem besten Freund, Chandra Venkataraghavan, dessen Vater die Familie verließ, als er selber zehn Jahre alt war. Malik saß in Chandras Zimmer und befragte den verwirrten Jungen. Sag mir, wie sehr es schmerzt, bat Malik Chandra. Ich muß es wissen. So sollte es auch mich schmerzen. Maliks Vater war verschwunden, als sein Sohn noch nicht einmal ein Jahr alt war; Mallika, seine hübsche, junge Mutter, hatte sämtliche Fotos verbrannt und innerhalb eines Jahres wieder geheiratet, dankbar den Namen ihres zweiten Ehemannes angenommen, ihn an Malik weitergegeben und Malik so seiner Vergangenheit als auch seiner Gefühle beraubt. Sein Vater war fort, und er kannte nicht einmal dessen Namen, der doch auch der seine war. Wäre es nach seiner Mutter gegangen, hätte Malik womöglich nicht einmal von der Existenz seines Vaters erfahren, aber sein Stiefvater erzählte es ihm sofort, als er alt genug war, es zu verstehen. Sein Stiefvater, der sich vom Vorwurf des Inzests befreien mußte. Davon vor allem.
Was hatte sein Vater für einen Beruf gehabt? Das wurde Malik niemals erklärt. War er dick oder dünn, groß oder klein? Waren seine Haare lockig oder glatt? Alles, was er tun konnte, war, in den Spiegel zu sehen. Das Geheimnis vom Aussehen seines Vaters würde gelüftet werden, wenn er heranwuchs und das Gesicht im Spiegel seine Fragen beantwortete. »Wir sind jetzt Solankas«, schärfte ihm die Mutter ein. »Ein Mensch, der nie existiert hat und der ganz eindeutig jetzt auch nicht existiert, spielt keine Rolle. Hier ist dein wahrer Vater, der dir was zu essen auf den Teller tut und dir Kleider schenkt. Die Füße solltest du ihm küssen und alles tun, was er dir sagt.«
Dieser zweite Ehemann war Dr. Solanka, Berater am Breach Candy Hospital und in seiner Freizeit ein begabter Komponist, der sich in der Tat als ein großzügiger Mensch erwies. Wie Malik jedoch erkennen mußte, forderte sein Stiefvater mehr von ihm als Füßeküssen. Als Malik sechs Jahre alt war, erfuhr Mrs. Mallika Solanka - die nie mehr empfangen hatte, als habe ihr ungetreuer erster Ehemann das Geheimnis der Fruchtbarkeit mit sich genommen -, daß sie keine weiteren Kinder mehr bekommen konnte, und das Martyrium des Jungen begann. Zieh ihm Kleider an und laß seine Haare wachsen, und er wird genauso unsere Tochter sein wie unser Sohn. Aber nein, mein lieber Ehemann, das geht doch nicht, ich meine, ist das okay? Aber ja! Warum denn nicht? Zu Hause, in unseren vier Wänden, wird alles, was der Pater familias befiehlt, von Gott gutgeheißen. Oh, meine schwache Mutter, du hast mir Schleifen und hübsche Kleider gebracht. Und als der Bastard dir erzählt hat, daß deine schwache Gesundheit, dieses ständige asthmatische Keuchen und die Erkältungen, tägliche Spaziergänge erfordere, als er dich auf lange Wanderungen in den Hanging Gardens oder auf dem Mahalaxmi Racecourse schickte, hast du ihn da nicht gefragt, warum er dich nicht begleitete, warum er die Ayah davonschickte und darauf bestand, allein für sein kleines Mädchen zu sorgen? Oh, meine arme, tote Mutter, die ihr einziges Kind verriet! Nachdem es ein ganzes Jahr so gegangen war, hatte Malik endlich seinen ganzen Mut zusammengenommen und die unaussprechliche Frage gestellt. Mummy, warum drückt Doctor Sahib mich immer nach unten? Wieso nach unten, was denn nach unten, was soll dieser Unsinn? Mummy, wenn er da steht und mir die Hand auf den Kopf legt, und mich nach unten drückt, und mich auf die Knie zwingt. Wenn er dann, Mummy, seine Pyjamahose öffnet, wenn er dann, Mummy, sie fallen läßt. Da hatte sie ihn hart und immer wieder geschlagen. Erzähl mir nie wieder diese bösartigen Lügen, oder ich schlage dich, bis du taub und stumm bist. Aus irgendeinem Grund hast du was gegen diesen Mann, welcher der einzige Vater ist, den du jemals gekannt hast. Aus irgendeinem Grund willst du nicht, daß deine Mutter glücklich ist, deswegen erzählst du diese Lügen, glaub ja nicht, daß ich dich nicht kenne, die Bosheit in deinem Herzen; was, glaubst du, ist das für ein Gefühl, wenn alle Mütter sagen, dein Malik, Liebste, hat so viel Phantasie, stell ihm eine Frage, und wer weiß, womit er herauskommt? O ja, ich weiß, was das bedeutet: Es bedeutet, daß du deine faustdicken Lügen in der ganzen Stadt rumerzählst und ich einen bösartigen Lügner zum Kind habe.
Von da an war er taub und stumm. Von da an sank er, sobald er den Druck auf seinem mit Schleifen geschmückten Kopf spürte, gehorsam auf die Knie, schloß die Augen und öffnete den Mund. Doch lange Monate später änderte sich alles. Eines Tages erhielt Dr. Solanka Besuch von Chandras Vater, Mr. Balasubramanyam Venkataraghavan, dem wichtigen Banker, und die beiden saßen über eine Stunde lang zusammen in einem Zimmer. Die Stimmen wurden lauter, dann senkten sie sich gleich wieder. Mallika wurde gerufen und schnell wieder entlassen. Malik drückte sich am anderen Ende des langen Korridors herum, mit großen Augen, sprachlos, eine Puppe umklammernd. Schließlich kam Mr. Venkat heraus, mit einer Miene wie Donnergrollen, und machte nur halt, um Malik, der für Venkats Besuch ein weißes Hemd und eine kurze Hose trug, zu nehmen und zu umarmen und ihm mit hochrotem, heißem Gesicht zuzuflüstern: »Keine Angst, mein Kleiner. Es wird nie wieder geschehen.« Am selben Nachmittag wurden sämtliche Kleidchen und Schleifchen eingesammelt, um verbrannt zu werden; aber Malik bestand darauf, seine Puppen zu behalten. Dr. Solanka legte nie wieder Hand an ihn. Was Mr. Venkat ihm auch immer angedroht haben mochte, es hatte gewirkt. (Als Balasubramanyam Venkataraghavan seine Familie verließ, um ein sanyasi zu werden, hatte der zehnjährige Malik Solanka furchtbare Angst gehabt, sein Stiefvater werde zu den alten Gewohnheiten zurückkehren. Doch wie es schien, hatte Dr. Solanka seine Lektion gelernt. Malik Solanka jedoch sprach nie wieder ein Wort mit seinem Stiefvater.)
Von jenem Tag an hatte sich auch Maliks Mutter verändert; ununterbrochen entschuldigte sie sich bei ihrem kleinen Sohn und weinte ohne Unterlaß. Er konnte kaum ein Wort mit ihr sprechen, ohne ein gräßliches Geheul schuldbewußten Kummers auszulösen. Dadurch wurde sie Malik fremd. Er brauchte eine Mutter und nicht ein Wasserwerk wie das auf dem Monopoly-Brett. »Bitte, Ammi«, ermahnte er sie, als sie sich wieder einmal in einen ihrer häufigen Umarmungs- und Schluchzanfälle stürzte. »Wenn ich mich zusammennehmen kann, dann kannst du das auch.« Pikiert ließ sie ihn los und weinte von da an nur noch allein in ihre Kissen. So gewann das Leben eine oberflächliche Normalität zurück, Dr. Solanka ging seinem Beruf nach, Mallika führte den Haushalt, und Malik verschloß seine Gedanken in seinem Inneren, um sich nur in den dunklen Stunden und nur flüsternd den Puppen anzuvertrauen, die er im Bett wie Schutzengel, wie Blutsverwandte um sich herum versammelt hatte: die einzige Familie, der er noch vertrauen konnte.
»Der Rest ist unwichtig«, sagte er, als er seine Beichte beendete. »Der Rest ist normal - weitermachen, erwachsen werden, fortgehen, mein eigenes Leben führen.« Eine Riesenlast war ihm von den Schultern gefallen. »Ich brauche sie nicht mehr mit mir herumzuschleppen«, ergänzte er voll Staunen. Neela nahm ihn in die Arme und rückte näher. »Jetzt bin ich es, die dich gefangenhält«, sagte sie. »Jetzt bin ich es, die dich bittet, hierhin zu gehen, jenes zu tun. Aber diesmal ist es, was wir beide wollen. In diesem Gefängnis bist du endlich frei.« Entspannt sank er an ihre Brust, obwohl er wußte, daß ein letztes Tor noch nicht geöffnet worden war: das Tor der vollen Aufdeckung, der absoluten, brutalen Wahrheit, hinter dem sich die seltsame Beziehung verbarg, die zwischen Mila Milo und ihm entstanden war. Aber das, redete er sich katastrophalerweise ein, hebe ich mir für einen anderen Tag auf.
Überall auf der Welt - in Großbritannien, in Indien, im fernen Lilliput - waren die Menschen besessen von dem Gedanken an Erfolg in Amerika. Neela war zu Hause berühmt, einfach weil sie es geschafft hatte, in den amerikanischen Medien einen guten Job zu bekommen - groß angekommen zu sein. In Indien war man sehr stolz auf die Erfolge von U.S.-Indern in der Musik, im Verlagswesen (allerdings nicht als Autoren), in Silicon Valley und in Hollywood. Die britische Hysterie stieg sogar noch höher. Britischer Journalist findet Arbeit in den USA! Unglaublich! Superstar! Britischer Crossdressing-Comedian gewinnt zwei Emmys! Fabelhaft - wir wußten schon immer, daß britische Transvestiten die besten sind! Erfolg in Amerika war zum einzigen Maßstab für den eigenen Wert geworden. Oho, Kniefall, dachte Malik Solanka. Heutzutage kann keiner mehr dem Geld widerstehen, und das gesamte Geld war hier - hier in diesem Gelobten Land. Derartige Überlegungen waren relevant geworden, denn mit Mitte Fünfzig erlebte er die geballte Macht eines echten amerikanischen Hits, eine Macht, die alle Türen der Stadt aufstieß, ihre Geheimnisse bloßlegte und zum Schlemmen einlud, bis man platzte. Der Galileo-Start, ein nie dagewesenes, interdisziplinäres Geschäftsunternehmen, hatte sofort intergalaktische Ausmaße angenommen. Er wurde zu jenem glücklichen Zufall: einem notwendigen Mythos. T-Shirts mit dem Aufdruck Das Recht des Stärkeren zierten die vornehmsten Brustkörbe der Stadt, wurden zum triumphalistischen Slogan für die Fitneß-Generation, die über Nacht zur Masse geworden war. Und auch auf einigen der schlaffsten Bäuche wurden sie getragen - als Beweis für den Sinn des Trägers für Ironie und Spaß. Die Nachfrage nach dem Playstation-Videogame überstieg alle Voraussagen und ließ sogar Lara Croft weit hinter sich. Auf dem Höhepunkt des Star Wars-Phänomens hatten die Nebenprodukte ein Viertel des Umsatzes der Spielzeugindustrie weltweit ausgemacht; dem war seither nur das Braingirl nahe gekommen. Jetzt setzte die Saga von Galileo-I neue Rekorde, und dieses Mal wurde die globale Raserei nicht von Film oder Fernsehen angeheizt, sondern von einer Website. Das neue Kommunikations-Medium zahlte sich endlich aus. Nachdem den Sommer über das Potential zahlreicher unprofitabler Internetfirmen mit Skepsis beobachtet worden war, kam hier nun die vorausgesagte schöne neue Welt. Professor Solankas überraschend glatthäutiges Ungeheuer begab sich, nachdem seine Stunde endlich gekommen war, auf den Weg nach Bethlehem, um dort geboren zu werden. (Gewiß, es gab noch Schwachstellen: in den ersten Tagen brach die Site oft unter dem schieren Gewicht der Nachfrage zusammen, die schneller zu wachsen schien, als die Webspyders den Zugang durch Replikation und Mirroring, das Spinnen neuer, glänzender Fäden für das Netz erweitern konnten.)
Wieder einmal begannen Solankas fiktive Personen aus ihren Käfigen auszubrechen und sich davonzumachen. Aus allen Himmelsrichtungen kamen die Nachrichten von ihren Abbildern, die, gigantisch geworden, viele Stockwerke hoch an den städtischen Mauern klebten. Sie absolvierten öffentliche Auftritte, sangen bei Ballspielen die Nationalhymne, veröffentlichten Kochbücher, besuchten als Gäste die Letterman-Show. Die besten jungen Schauspielerinnen der Gegenwart wetteiferten öffentlich um die begehrte Hauptrolle der Zameen von Rijk und ihres Doubles, der Cyborg-Göttin des Sieges. Und dieses Mal empfand Solanka nichts von der alten Braingirl-Frustration, weil es, wie Mila Milo versprochen hatte, tatsächlich seine Show war. Er staunte über die eigene Erregung. Kreativ- und Firmenbesprechungen füllten seine Tage. Das E-Mail-Verhältnis mit den Webspyders war vorüber. Reguläre Zusammenkünfte waren notwendig. Das einzige Haar in dieser eines Krösus würdigen, fetten Suppe war der fortgesetzte, vielleicht sogar noch wachsende Zorn der sexuell verschmähten, vaterfixierten Mila. Mit steinernen Mienen erschienen Mila und Eddie bei den wichtigsten Besprechungen und gingen, ohne Solanka ein freundliches Wort zu gönnen. Ihre Haare und Augen sprachen jedoch Bände. Sie wechselten häufig die Farbe, brannten an einem Tag wie Flammen und dräuten am nächsten schon wieder schwarz-finster. Häufig bissen sich die Kontaktlinsen grell mit den Haaren und ließen darauf schließen, daß Mila an diesem speziellen Tag besonders übler Laune war.
Solanka hatte keine Zeit für das Problem Mila. Die Gründerpartner des Galileo-Projektes sprudelten über von Diversifikationsideen: eine Restaurantkette! Ein Themenpark! Ein riesiges Hotel in Las Vegas mit einem Unterhaltungszentrum und einem Casino in Form der beiden Baburia-Inseln, mitten in einen künstlichen Ozean ins Herz der Wüste gesetzt! Das Heer der Geschäftsleute, das interessiert an die Tür klopfte und eingelassen werden wollte, war fast so schwer zu bestimmen wie die Zahlen von Pi hinter dem Komma. Die Webspyders kreierten und erhielten fast täglich neue Vorschläge für die Zukunft des Projekts, und Malik Solanka stürzte sich in die Ekstase, die furia, der Arbeit.
Das Eingreifen der lebenden Puppen vom imaginären Planeten Galileo-I in die öffentlichen Angelegenheiten der tatsächlich existierenden Erde war jedoch nicht vorgesehen. Es war Neela, die Solanka die Nachricht überbrachte. In höchster Erregung erschien sie in der West Seventieth Street. Beim Sprechen blitzten ihre Augen. In Lilliput hatte es einen Gegenschlag gegeben. Begonnen hatte er als Einbruch: Maskierte Männer raubten Mildendos größtes Spielzeuggeschäft aus und machten sich mit dem gesamten, soeben erst importierten Vorrat an Kronosschen Cyborg-Masken und -Kostümen davon. Interessanterweise wurden - in Anbetracht des Namens von Neelas barbrüstigem, flaggenschwingendem Kumpel - keine baburischen Kostüme gestohlen. Die FRM-Radikalen, die revolutionären Indo-Lilly-Fremen, die den Raubzug angezettelt hatten, identifizierten sich, wie später bekannt wurde, sehr stark mit den Marionettenkönigen, deren unveräußerliches Recht, als Gleichgestellte - als moralisch und empfindungsmäßig vollgültige Wesen - behandelt zu werden, ihnen von Mogol, dem Baburier, ihrem Todfeind, verweigert wurde, dessen Inkarnation zu sein man Skyresh Bolgolam vorwarf.
Bisher klangen die Nachrichten eher kurios, wie eine exotische, unwichtige Verirrung im fernen und daher leicht zu negierenden Südpazifik. Aber was folgte, war nicht so leicht zu ignorieren. Tausende straff disziplinierter Filbistani-Revolutionäre hatten mit Waffengewalt Lilliput-Blefuscus Schlüsseleinrichtungen gleichzeitig angegriffen, hatten die bescheidene Elbee-Armee überrumpelt und die Bolgolamiten, die das Parlament, die Rundfunk- und Fernsehsender, die Telefongesellschaft und die Büros des Lillicon Internet Servers wie auch den Flugplatz und den Seehafen besetzt hielten, in heftige und lange Kämpfe verwickelt. Die Infanteristen trugen gewöhnlich Hüte, Visiere und Tücher, um ihre Gesichter zu verbergen, einige Offiziere jedoch waren prachtvoller gekleidet. Die Cyborgs von Akasz Kronos führten ihre Truppen in das, was nach Malik Solankas Erkenntnis nichts weniger war als eine dritte Revolte der lebenden Puppern. Zahlreiche Puppenmacher und Zameens wurden gesehen, wie sie selbstsicher die Operationen leiteten. »Das Recht des Stärkeren!« hörte man die Fremen rufen, während sie die Stellungen der Bolgolamiten stürmten. Am Ende dieses blutigen Tages hatten die FRM den Sieg errungen, aber der Preis dafür war hoch: Hunderte von Toten, weitere Hunderte Schwer- oder Leichtverwundete. Die medizinischen Einrichtungen von Lilliput-Blefuscu hatten große Probleme damit, die Opfer so schnell zu versorgen, wie ihre Verletzungen es erforderten. Manche der Verwundeten starben, während sie auf ihre Versorgung warteten. Der Lärm von Schmerz und Angst erfüllte die Korridore der Krankenhäuser der kleinen Nation die ganze Nacht hindurch. Als Lilliput-Blefuscu wieder Kontakt mit der Außenwelt aufnahm, stellte sich heraus, daß sowohl Präsident Golbasto Gue als auch Skyresh Bolgolam, der Anführer des ursprünglichen, fehlgeschlagenen Coups, lebend in Gefangenschaft geraten waren. Der Anführer des FRM-Aufstands, der von Kopf bis Fuß in einem Kronos/Puppenmacher-Kostüm steckte und der sich nur noch Commander Akasz nannte, erschien kurz auf LBTV, um den Erfolg seines Unternehmens zu verkünden, die Märtyrer zu preisen und mit geballter Faust zu erklären: »Die Stärksten haben überlebt!« Dann gab er seine Forderungen bekannt: Wiedereinsetzung der verworfenen Golbasto-Verfassung und einen Prozeß gegen die Bolgolam-Bande wegen Hochverrats, der nach dem Elbee-Gesetz mit dem Tode bestraft wurde, obwohl seit Menschengedenken keine Hinrichtungen mehr stattgefunden hatten und auch in diesem Fall nicht erwartet wurden. Weiterhin erklärte er, daß er, Commander Akasz der Fremen, das Recht beanspruche, im Hinblick auf Lilliput-Blefuscus nächste Regierung zu Rate gezogen zu werden, und hatte eine eigene Liste von Kandidaten für ein Ministeramt vorgelegt. Für sich selbst verlangte er keinen Posten, ein Beispiel falscher Bescheidenheit, die niemanden irreführte. Bai Thackeray in Bombay und Jörg Haider in Österreich hatten bewiesen, daß man nicht unbedingt ein öffentliches Amt bekleiden mußte, um das Land zu regieren. Ein echter starker Mann war aufgetaucht. Bis seine Forderungen erfüllt waren, schloß Commander Akasz, wolle er den hochgeachteten Präsidenten und den Verräter Bolgolam bitten, als seine persönlichen Gäste im Parlamentsgebäude zu verweilen. Solanka war beunruhigt; wieder mal das alte Problem, ob der Zweck die Mittel heilige. Commander Akasz klang für ihn nicht nach einem Verfechter der gerechten Sache, und während Mandela und Gandhi, wie Solanka einräumte, nicht die einzigen Vorbilder für Revolutionäre waren, mußten Tyrannenmethoden immer beim richtigen Namen genannt werden. Neela aber war begeistert. »Das Unglaubliche ist, daß dieses Verhalten so gar nicht zu den Indo-Lillys paßt; militarisiert, diszipliniert, sich selbst aktiv zu verteidigen, statt zu weinen und flehentlich die Hände zu ringen. Er hat ein echtes Wunder bewirkt, meinst du nicht auch?« Sie werde am Morgen nach Mildendo abreisen, erklärte sie ihm. »Du solltest dich für mich freuen. Dieser Coup macht meinen Film so richtig sexy. Das Telefon hat den ganzen Tag geklingelt.« Malik Solanka, der sich auf einem der Höhepunkte seines Lebens befand, der sich wie Gulliver oder Alice, wie ein Riese unter Pygmäen, unüberwindlich, unverletzlich fühlte, spürte auf einmal, wie winzige, unsichtbare Finger an seinen Kleidern zupften, als versuche eine Horde kleiner Zwerge ihn in die Hölle hinabzuziehen. »Das ist er, weißt du«, ergänzte Neela. »Commander Akasz, meine ich. Ich habe das Videoband gesehen, und es besteht kein Zweifel. Dieser Körper: Ich würde ihn überall wiedererkennen. Er ist wirklich ein toller Kerl.«
Das Tempo des augenblicklichen Lebens, dachte Malik Solanka, übersteigt die Fähigkeit des Herzens, zu reagieren. Jacks Tod, Neelas Liebe, der Sieg über die Wut, Asmaans Elefant, Eleanors Kummer, Milas Schmerz, die triumphierende Verachtung des Klempners Schlink, das Ende des Sommers, der Bolgolam-Coup in Lilliput-Blefuscu, Solankas eigene Eifersucht auf den FRM-Kämpfer Babur, sein Streit mit Neela, die Schreie in der Nacht, das Erzählen seiner Vorgeschichte, die rasante Entwicklung des Projekts der Marionettenkönige von Galileo und sein gigantischer Erfolg, der Gegenschlag von Commander Akasz, Neelas bevorstehende Abreise: ein derart beschleunigter Zeitablauf war auf fast komische Weise überwältigend. Neela selbst spürte nichts davon; als Wesen von Tempo und Bewegung, als Kind ihres hektischen Zeitalters akzeptierte sie das augenblickliche Tempo des Wechsels als normal. »Wenn du so redest, klingst du fürchterlich alt«, schalt sie ihn. »Hör auf damit und komm sofort her!« Sie zogen ihren letzten Liebesakt genüßlich und ohne Eile lange hinaus. Nichts mehr von exzessiver postmoderner Hektik. Es gab also immer noch ein paar Gebiete, auf denen die Jungen Langsamkeit zu schätzen wußten.
Er glitt in einen traumlosen Schlaf hinüber, erwachte zwei Stunden später jedoch aus einem Albtraum. Neela war noch immer da - sie übernachtete gern in Solankas Wohnung, obwohl sie es weiterhin nicht mochte, wenn sie neben ihm in ihrem eigenen Bett erwachte, eine Forderung, die er ohne Einwände akzeptiert hatte -, aber es war noch eine fremde Person im Raum, nein, ein sehr großer Mann stand auf Solankas Seite am Bett und hielt - oh, gräßliches Spiegelbild von Solankas eigener Untat! - ein gefährlich aussehendes Messer empor. Sofort hellwach, fuhr Solanka senkrecht im Bett hoch. Der Eindringling begrüßte ihn, indem er die Klinge vage in seine Richtung schwenkte. »Professor«, sagte Eddie Ford nicht ohne eine gewisse Höflichkeit, »es freut mich, daß Sie heute abend bei uns sein können.«
Schon früher einmal, vor Jahren in London, war Solanka mit einem Messer bedroht worden - von einem jungen Schwarzen, der aus einem Cabrio sprang und sofort eine Telefonzelle benutzen wollte, die Solanka gerade betreten hatte. »Es geht um eine Frau, Mann«, hatte der argumentiert. »Also ist es dringend, klar?« Als Solanka erklärte, sein eigener Anruf sei ebenfalls wichtig, ging der junge Mann hoch. »Ich werd’ dich aufschlitzen, du Bastard, sieh dich vor! Das ist mir scheißegal, okay?« Solanka hatte hart an seiner Körpersprache gearbeitet. Es galt, nicht zu ängstlich, aber auch nicht zu selbstsicher zu wirken. Man mußte auf Messers Schneide balancieren. Außerdem war er bemüht, ruhig zu sprechen. »Das wäre wirklich nicht gut für mich«, sagte er, »aber für dich ebensowenig.« Darauf folgte ein Wettkampf der Blicke, bei dem Solanka klug genug war, den anderen gewinnen zu lassen. »Okay, verpiß dich, du Wichser, okay?« sagte der Mann mit dem Messer und trat in die Zelle, um seinen Anruf zu tätigen. »He, Baby, vergiß ihn, Baby, ich werd’ dir was zeigen, was dieser alte Saftsack nicht drauf hat.« Damit begann er in den Telefonhörer hinein voll Schmalz ein paar Takte zu singen, die Solanka als einen Song von Bruce Springsteen identifizierte. »Teil me now, baby, is your daddy home, did he go and leave you all alone, uh-huh, I got a bad desire; oh, oh, oh, I’m on fire.« Solanka aber ging schnellen Schrittes davon, bog um eine Ecke und sank zitternd mit dem Rücken an eine Wand.
Nun war es also wieder soweit, aber diesmal ging es um persönliche Dinge, und Körpersprache sowie Stimmkontrolle würden möglicherweise nicht genügen. Diesmal schlief eine Frau neben ihm im Bett. Eddie Ford hatte begonnen, am Fuß des Bettes langsam auf und ab zu gehen. »Ich weiß, was Sie im Sinn haben, Mann«, sagte er. »Sie große Filmkanone, Sie. Lincoln Plaza, et cetera, na klar. Knife in the Dark, davon haben Sie’s, zweiter Pink-Panther-Film, mit der hübschen Elke Sommer, stimmt’s?« Der Film hatte A Shot in the Dark geheißen, aber Solanka beschloß, Eddie zunächst mal nicht zu korrigieren. »Beschissene Messerfilme«, sinnierte Eddie. »Mila hat Bruno Ganz in Messer im Kopf gemocht, aber für mich müssen’s die alten Klassiker sein, Polanskis Messer im Wasser. Um seiner Frau zu imponieren, beginnt ein Mann mit einem Messer zu spielen. Sie hatte was übrig, für diesen beschissenen blonden Hitchhiker. Das war ein beschissener Fehler, Lady. Das war schlimm.«
Neela regte sich; wie so oft, weinte sie leise im Schlaf. »Still.« Solanka streichelte ihren Rücken. »Ist ja schon gut. Still.« Eddie nickte weise. »Vermutlich wird sie bald bei uns sein, Mann. Ich freu mich schon drauf.« Dann nahm er seinen Gedankengang wieder auf. »Wir teilen Filme oft ein, Mila und ich. Gruselig, gruseliger, am gruseligsten, und so. Für sie ist es Der Exorzist, Mann, der jetzt bald wieder neu rauskommt, mit bisher ungezeigtem Material, ja, ja, aber ich sage nein. Da muß man ganz weit zu den Klassikern zurückgehen, bis zu meinem Roman Polanski. Rosemary’s Baby, Mann. Das ist mein Baby. Also Babies, über die muß man Bescheid wissen, stimmt’s, Professor? Babies sitzen einem zum Beispiel nach einem beschissenen Tag auf dem Schoß. Sie antworten ja gar nicht, Professor. Gestatten Sie, daß ich’s anders formuliere. Sie haben mit was rumgemacht, das nicht für Sie zum Rummachen war, und so, wie ich es sehe, muß der beschissene Übeltäter bestraft werden. Die Rache ist mein, sagt der Herr. Die Rache ist Eddies, ist das nicht so, Professor, würden Sie nicht zugeben, so wie wir einander hier gegenüberstehen, daß das verdammt noch mal auf diesen Fall zutrifft? Wie wir hier einander gegenüberstehen, Sie hilflos mit Ihrer Lady da und ich mit diesem riesigen Mordsinstrument in meiner Hand, während ich’s nicht erwarten kann, Ihnen die Eier abzuschneiden, sehen Sie da verdammt noch mal nicht ein, daß der Tag des Jüngsten Gerichts gekommen ist?«
Das Kino verkindlicht seine Zuschauer, dachte Solanka, aber vielleicht ließen sich leicht infantile Gemüter auch von gewissen schlichten Filmen anziehen. Vielleicht stumpft das tägliche Leben mit seiner Hast, seiner Überladenheit die Menschen ab und betäubt sie, so daß sie in die simpleren Welten der Filme eintauchen wollen, um sich daran zu erinnern, wie es ist, etwas zu empfinden. Infolgedessen erscheint in den Köpfen vieler Erwachsener das Erlebnis, das in den Kinos geboten wird, inzwischen realer als das, was in der Welt draußen zu haben ist. Für Eddie besaßen die Tiraden seiner Kinogauner mehr Authentizität als irgendeine normale Ausdrucksweise, als selbst die Drohsprache, die ihm zur Verfügung stand. In seiner Vorstellung war er Samuel L. Jackson, der drauf und dran war, einen Fatzke fertigzumachen. Er war ein Mann in Schwarz, ein Mann, der nach einer Farbe genannt wurde und ein gefesseltes Opfer zur Melodie von Stuck in the Middle with You aufschlitzte. Aber das alles hieß nicht, daß ein Messer nicht immer noch ein Messer war. Daß Schmerz immer noch Schmerz war, daß der Tod das Ende war und daß hier ganz zweifellos ein durchgeknallter junger Mann bei ihnen im Dunkeln war, der wütend ein Messer schwenkte. Neela war inzwischen wach geworden; sie saß neben Solanka und zog sich, genau wie die Leute im Kino, eine Decke um die Schultern. »Kennst du den?« fragte sie flüsternd. Eddie lachte. »Oh, aber gewiß doch, schöne Frau«, rief er höhnisch. »Wir haben noch Zeit für ein paar kleine Fragen und Antworten. Der Professor und ich, wir sind Kollegen.«
»Eddie«, sagte eine Mila mit beunruhigend roten Augen und blauen Haaren vorwurfsvoll von der offenen Tür her. »Du hast meine Schlüssel gestohlen. Er hat meine Schlüssel gestohlen«, sagte sie, an Solanka in seinem Bett gewandt. »Tut mir leid. Er hat, na ja, heftige Gefühle. Das gefällt mir bei einem Mann. Vor allem, was dich betrifft, hat er heftige Gefühle. Verständlicherweise. Aber das Messer? Das ist falsch, Eddie.« Sie wandte sich wieder an ihren Verlobten. »F-a-l-s-c-h. Wie sollen wir heiraten, wenn du hinter Gittern landest?« Eddie wirkte zerknirscht, verlegte sein Gewicht wie ein Schuljunge von einem Fuß auf den anderen und schrumpfte innerhalb weniger Sekunden vom wütenden Kampfhund zum winselnden Welpen. »Warte draußen«, befahl sie ihm, und er trottete schweigend hinaus. »Er wird draußen warten«, sagte sie zu Solanka, die andere Frau im Zimmer total ignorierend. »Wir müssen miteinander reden.«
Die andere Frau war es jedoch nicht gewohnt, von einer Szene ausgeschlossen zu sein, zu der sie gehörte. »Was soll das heißen, er hat Ihre Schlüssel gestohlen?« wollte Neela wissen. »Wieso hat sie deine Schlüssel? Was heißt, ihr zwei seid Kollegen? Was meint sie mit verständlicherweise? Warum muß sie mit dir reden?«
Sie muß mit mir reden, antwortete Professor Solanka in Gedanken, weil sie glaubt, ich denke, daß sie ihren Vater gefickt hat, während ich tatsächlich weiß, daß ihr Vater sie gefickt hat, und das ist ein Problem, in das ich sehr viel Recherchen investiert habe. Er hat sie jeden Tag gefickt wie eine Ziege - wie ein Mann -, und dann hat er sie verlassen. Und weil sie ihn geliebt, aber auch genauso verabscheut hat, hat sie seitdem nach Ersatzversionen gesucht, Imitationen des Lebens. Sie ist eine Expertin in der Verhaltensweise ihres Zeitalters, dieses Zeitalters der Abbilder und Fälschungen, in dem man jedes Vergnügen, das Frauen und Männer kennen, als synthetischen Ersatz finden kann, sicher vor Krankheit oder Schuldbewußtsein - eine kalorien- und ballaststoffarme, brillant gefälschte Version der schwerfälligen Welt aus echtem Blut und Mut. Imitierte Erlebnisse, die so wunderbar sind, daß man sie den echten jederzeit vorzieht. Das war ich: ihr Falsifikat.
Es war siebzehn Minuten nach drei Uhr morgens. Mila, in Trenchcoat und Stiefeln, setzte sich auf die Bettkante. Malik Solanka stöhnte. Katastrophen geschahen immer, wenn man am wenigsten verteidigungsbereit war: machten genauso blind wie die Liebe. »Erzähl’s ihr«, forderte Mila ihn auf und akzeptierte zum erstenmal Neelas Existenz. »Erklär ihr, warum du mir die Schlüssel zu deinem kleinen Königreich hier gegeben hast. Erklär ihr das Kissen auf deinem Schoß.« Mila hatte sich sorgfältig auf diese Konfrontation vorbereitet. Sie löste den Gürtel ihres Trenchcoats, ließ den Mantel fallen und zeigte sich - ausgerechnet - in einem idiotisch kurzen Baby-Doll-Nachthemd. Das war ein klassischer Fall des Benutzens von Kleidung als tödliche Waffe: Die verletzte Mila in tödlicher Entkleidung. »Na los, Papi«, drängte sie ihn. »Erzähl ihr von uns. Erzähl ihr von Mila am Nachmittag.«
»Ja, bitte«, setzte Eleanor Masters Solanka grimmig hinzu und schaltete das Licht an, während sie hereinkam, begleitet von der untersetzten, grauhaarigen, bebrillten, blinzelnden Buddhisteneule, seinem Ex-Freund Morgen Franz. »Ich bin sicher, daß uns das alle interessieren wird.« Na, wunderbar, dachte Malik. Meine Tür scheint wohl für alle offenzustehen. Bitte sehr, kommt nur herein, alle zusammen, achtet nicht auf mich, macht es euch bequem. Eleanors glattes, kastanienbraunes Haar hing länger herab denn je; sie trug einen langen, hochgeschlossenen Kaschmirmantel, und ihre Augen flammten. Für drei Uhr morgens sieht sie phantastisch aus, stellte Malik fest. Außerdem bemerkte er, daß Morgen Franz ihre Hand hielt; und daß Neela aus seinem Bett stieg, um sich mit eiskalter Ruhe anzuziehen. Auch ihre Augen flammten, und Milas waren natürlich ohnehin leuchtend rot. Solanka schloß die eigenen Augen, legte sich zurück und zog sich, wegen der auf einmal grellen Beleuchtung im Zimmer, ein Kissen übers Gesicht.
Eleanor und Morgen hatten Asmaan bei seiner Großmutter untergebracht und waren am Nachmittag auf dem JFK- Flughafen gelandet. Sie waren in einem Hotel in Midtown New York abgestiegen, um am folgenden Morgen mit Solanka Kontakt aufzunehmen und ihn mit ihren veränderten Lebensumständen bekannt zu machen. (Das hatte Solanka wenigstens im voraus geahnt: oder vielmehr, Asmaan hatte ihn informiert.) »Jedenfalls konnte ich nicht schlafen«, sagte Eleanor, an das Kissen gerichtet. »Also dachte ich, verdammt noch mal, ich gehe hin und wecke ihn auf. Wie ich jedoch sehe, hast du bereits Besuch; und das macht es mir viel leichter, dir das zu sagen, weswegen ich gekommen bin.« Ihre Stimme war jetzt alles andere als sanft geworden. Sie hatte die Fäuste so fest geballt, daß ihre Handknöchel weiß wurden. Sie gab sich große Mühe, die Kontrolle über ihre Stimme zu behalten. Jeden Moment nun würde sie den Mund öffnen und statt Worten den ohrenbetäubenden, weltzerstörenden Schrei einer Furie ausstoßen.
Ich hätte es wissen müssen, dachte Solanka und zog sich das Kissen fester aufs Gesicht. Welche Chance hatte ein Sterblicher gegen die tückische Bosheit der Götter? Hier waren sie, die drei Furien, die »Gutmütigen« höchstselbst, und hatten ganz und gar Besitz ergriffen von den Körpern jener Frauen, denen sein Leben zutiefst verbunden war. Ihre äußerliche Gestalt war nur allzu vertraut, aber das Feuer, das aus den Augen dieser verwandelten Wesen sprühte, bewies, daß sie nicht mehr die Frauen waren, die er gekannt hatte, sondern ihn in die Unterwelt der Upper West Side zogen ... »Verdammt noch mal, komm aus dem Bett!« fuhr Neela Mahendra ihn an. »Steh sofort auf, damit wir dich kurz und klein schlagen können.« Splitternackt kam Professor Malik Solanka unter den flammenden Blicken der Frauen, die er geliebt hatte, auf die Füße. Die Wut, die ihn bisher besessen hatte, war nun die ihre; und Morgen Franz wurde in dieses Kraftfeld hineingesogen, Morgen, der so wenig stolz auf sein eigenes Verhalten sein konnte, der allerdings aber auch gelernt hatte, was es hieß, ein Diener der Liebe zu sein. Morgen, dem Eleanor die Gabe ihres verletzten Ego und die Sorge für ihren Sohn anvertraut hatte. Knisternd vor Energie, die ihm die Furien lieferten, ging er wie eine Marionette an glitzernden Fäden auf den nackten Mann zu und schlug mit seinem kraftlosen Arm zu. Solanka fiel, wie eine Träne.